Konzept, Entstehung, bisherige Erfahrungen der BücherboXX Gleis 17

Die BücherboXX Gleis 17 wurde im Jahre 2012 von INBAK entwickelt. Ausbau und Aufstellung wurden einmalig aus Mitteln der Landeszentrale für politische Bildung gefördert. Die offizielle Einweihung fand am 21. 11. 2012 im Beisein von Klaus-Dieter Gröhler (Kulturstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf)

Ziele des Projekts

Wie andere BücherboXXen auch, dient die BücherboXX am Gleis 17  dem freien Geben und Nehmen von Büchern in einer öffentlichen Straßenbibliothek und entspricht damit im weitesten Sinne einer neuen Ökonomie des Tauschens und Schenkens.

Das Besondere dieser BücherboXX ist jedoch, dass mindestens ein Regal vorgesehen ist für Bücher, die thematisch-inhaltlich zum Mahnmal Gleis 17 passen. Eine Auflistung der ca. 5000 Bücher, die bisher mittels der BücherboXX „getauscht“ wurden, zeigt die ganze Vielfalt und Breite des Spektrums. Ein BücherboXX fasst ca. 300 Bücher.

Der Aus- und Umbau wurde als berufspädagogisches Projekt im Rahmen der schulischen oder außerschulischen Berufsbildung von Auszubildenden bzw. Berufsschülern vorgenommen.

Beteiligt waren:
Gesellschaft für berufsbildende Maßnahmen mbH u.a. mit Tischlern, Zimmerern, Malern und Lackierern
Produktionsschule Sägewerk Grunewald der GfbM
Max-Bill-Schule (früher Marcel-Breuer-Schule) mit Produktdesignern, der Juniorenfirma Ickedesign
Knobelsdorff-Schule mit Elektronikern der Hans-Böckler-Schule mit Metallarbeiten, die AOK Berlin-Brandenburg mit Sozialversicherungsfachangestellten, Peter-Lenné-Schule, Gartenbauamt mit der Ausbildungsabteilung u. a.

Zeitzeugen und Künstler

Katharina Ehrlicher (heute: 93 Jahre) hat von Beginn an die Ausbauarbeiten der Auszubildenden mit ihren Schilderungen und Erfahrungen begleitet, indem sie über ihre Kindheit im Nationalsozialismus berichtet, über die „Bekennende Kirche“ oder ihre „Freundschaft im Harald Poelchau“.
Der bekannte Künstler Rainer Ehrt aus Kleinmachnow hat die gestalterischen Arbeiten der Schülerinnen und Schüler begleitet und gab wesentliche Impulse, so z. B. der blau-weiße Grundton, die hebräischen Wörter „Lesen und Verstehen“ oder das Zitat des Kabbalisten Isaac Luria über das Erinnern.

Aufstellung und langfristige Nutzung der BücherboXX am endgültigen Aufstellungsort vor dem S-Bhf. Grunewald in der Nähe des Mahnmals Gleis 17. Die kleine Grünanlage in der Mitte heißt seit dem 17. 10. 2015 Karmielplatz, benannt nach der israelischen Partnerstadt von Charlottenburg-Wilmersdorf.

Zivilgesellschaftliches Engagement
Anwohner, Kümmerer im näheren und weiteren Umfeld des Ortsteils Grunewald
Stolperstein-Gruppe Eichkamp
Schüler des Gottfried-Keller-Gymnasiums
Bookcrosser aus ganz Berlin (www.bookcrossing.com)

Begleitende Lesungen, Vorträge und Diskussionen:
KunstStücke Grunewald (INBAK, Institut für Nachhaltigkeit in Bildung, Arbeit und Kultur GbR, Gaby und Konrad Kutt). Hier ist eine Auswahl der Aktivitäten, die privat finanziert wurden:

  • Inge Deutschkron: Lachen in der Not“ und Dr. Wolfgang Kaiser zum 20. Jahrestag der Wannseekonferenz
  • Martin-Heinz Ehlert berichtet über die jüdische Pädagogin Paula Fürst und
    Tatjana Blacher trägt Gedichte vor von Selma Meerbaum-Eisinger
  • Hedwig Brenner und Christel Wollmann-Fiedler: Czernowitz ist meine Heimat
  • Ilona Zeuch-Wiese berichtet von ihrer Spurensuche in ihrer familär jüdischen Vergangenheit
  • Katharina Ehrlicher berichtet über „Meine Kindheit im Nationalsozialismus“, Schüler des Gottfried-Keller-Gymnasiums über „Damals war es Friedrich“ und Gaby Kutt erzählt aus „Soaring Underground“
  • Jiddische Lieder und Satiren mit Helus Hercygier und Alexandra Gotthard
    im Allgemeinen Blinden- und Sehbehinderten Verein
  • Lesung: Heinrich von der Haar: Der Idealist
  • Lesungen und Schauspiel direkt vor dem S-Bahnhof: Im Vorgarten der Anwohnerin Streichan wurde eine Jurte aufgebaut und im Stundentakt wurden ca. 10 Lesungen und Zeitzeugenberichte durchgeführt.
  • Helga Schubert (Lesung): Die Welt da drinnen. Mit Dr. Wolfgang Kaiser, Robert Parzer und Rose Hof, musikalische Begleitung Maria Treu
  • Hans Croiset (Lesung): Maskenball unter den Linden. Mit Prof. Ledanff, Karl-Heinz Wahren
  • Kurt Tucholsky: Lieder und Texte. Vorgetragen von Helus Hercygier und Alexandra Gotthardt
  • Gesprächskreis Literatur mit Schreibwerkstatt (Sporadisch)
  • Filmvorführung u. a. mit Inge Deutschkron: Ein Blinder Held. Die Liebe des Otto Weidt.
  • Filmvorführung „Fahrenheit 451“  und „Club der toten Dichter“ jeweils mit Diskussionen
  • Tal Koch, ein israelischer Tenor, hat zum 18. Oktober und zum 9. November 2020 hebräische Lieder an der BücherboXX gesungen.

Öffentlichkeit:

Regelmäßige Treffen mit Kümmerern an der BücherboXX
Artikel und Berichte in der Presse

Veröffentlichung in der BücherboXX-Rundschau (12/2017) mit 16 Seiten

Parcours der Erinnerung am 27. Jan. 2019:  dem Holocaust Gedenktag. Lesung mit 25 Teilnehmern unter dem Bahntunnel am S-Bhf. Grunewald  und anschließendem Kaffee in der Trabener Straße. Herstellung des Films „Erinnern durch Lesen“.  (Youtube), Wiederholung zum 75. Jahrestag der Befreiung  des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27. 1. 2020 und 2021.

Ausstattung der BücherboXX mit einer HörboXX:

Durch Knopfdruck auf einem fest eingebauten Abspielgerät mit 4 Tasten gibt es auch etwas zu Hören, vorausgesetzt die Solaranlage stellt genug Energie her.

In einer ersten Erprobungsfassung wurden Gedichte von Kurt Tucholsky und Erich Kästner eingespielt, gelesen von Helus Herczygier. In einer zweiten Erprobungsfassung wurde Aus dem Tagebuch der Anne Frank der Brief vom 15. Juli 1944 ausgewählt, der in vier Sprachen dargeboten wird: Deutsch, Englisch, Polnisch, Maori. „Warum aber Maori?“ Eine Weltsprache. Kann ich erklären. Siehe auch unter Kooperation mit dem Goethe-Institut.

Erstellung einer speziellen BücherboXX Gleis 17-Rundschau mit 12 Seiten, mit einem Vorwort des Bürgermeisters von Charlottenburg-Wilmersdorf, diversen Berichten Erlebnissen, neuen literarischen Texten usw.

Kooperation mit dem Goethe-Institut
Wir bieten Teilnehmern von Sprachkursen des Goethe-Instituts eine Einführung in die Geschichte des Mahnmals Gleis 17 in Verbindung mit der BücherboXX. 4-5 Teilnehmer aus Deutschkursen erkunden die BücherboXX Gleis 17. Sie lernen etwas über die Kultur der Erinnerung, das Mahnmal, die Straßenbibliothek, die Nachhaltigkeit. Daraus ergeben sich mitunter weiterführende Verbindungen und Aktivitäten. 

Herausragendes Beispiel ist der Besuch von Baruch Many (Tel Aviv), den wir sogar in Tel Aviv besuchten, um im dortigen Goethe Institut einen Vortrag über die BücherboXX am Gleis 17 zu halten: https://buecherboxx.info/2019/04/16/praesentation-der-buecherboxx-gleis-17-im-goethe-institut-tel-aviv/
Ein weiteres Beispiel: der Besuch von Professor Jeffrey Holman aus Neuseeland, der das frisch auf Maori übersetzte „Tagebuch der Anne Frank“ mitbrachte, aus dem dann ein Text in der HörboXX der BücherboXX landete, gesprochen von seiner Frau Jeanette: https://buecherboxx.info/2020/06/10/12-06-2020-anne-frank-waere-91-jahre-geworden/

Fazit:

Die BücherboXX Gleis 17 wird stark frequentiert. Der Austausch der Bücher ist enorm groß. Ständig kommt jemand, bringt oder nimmt Bücher mit. Begegnungen und Gespräche kommen zustande. Man kennt sich über die BücherboXX. Auszubildende haben eine Befragung zur Akzeptanz und Nutzung der BücherboXX durchgeführt. Das Buch gilt als sichtbares Symbol für Nachhaltigkeit und Erinnerung. Viele ausländische Besucher und Reisegruppen aus aller Welt kommen zum Mahnmal Gleis 17 und bewundern dann auch die Straßenbibliothek. Sehr stark werden Bücher zum Mahnmal nachgefragt, dieses Regal ist deshalb oft schnell leer und der Nachschub erfolgt systematisch aus einer Bevorratung in der Nähe.

Die BücherboXX Gleis 17 hat sich zu einer nicht mehr wegzudenkenden „Institution“ entwickelt. Besonders deutlich wurde dies bei den allgemeinen Einschränkungen durch die Corona-Pandemie. Die BücherboXX lebte weiter und wurde gebraucht unter dem Motto „Bitte mit Abstand und Anstand“ nutzen. 

Die BücherboXX Gleis 17 ist zu einem systemischen Teil der Gedenkkultur dieses Ortes geworden, der einer der bedeutendsten erinnerungskulturellen Orte an  Deportation und Holocaust ist. Zweimal im Jahr finden anlassbedingt offizielle Gedenkveranstaltungen statt, nämlich am 18. Oktober und am 9. November. Das ganze Jahr über bleibt der Bahnhof und der Gedenkort Ziel für individuelle Besuche, Reisegruppen und Politiker aus aller Welt. Die BücherboXX als eine freie Erinnerungsbibliothek erfüllt in den Zwischenzeiten eine wichtige Aufgabe, die bislang ehrenamtlich durch zivilgesellschaftliches Engagement erfüllt wurde. Sie stößt aber zunehmend an die Grenzen des personell und logistisch Leistbaren.